Nicht nur nach COVID: Fatigue bei chronischen Lungenerkrankungen

Durch COVID und das Post-COVID-Syndrom ist das Phänomen Fatigue zu einem medizinischen Trendthema geworden. Das lenkt die Aufmerksamkeit auch auf Fatigue bei Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen und eröffnet ihnen möglicherweise neue Behandlungsangebote.

Fatigue bei chronischen Lungenerkrankungen: Endlich kein Schattenthema mehr!

Bei einigen Erkrankungen (wie Krebs oder Multiple Sklerose) ist Fatigue schon lange ein Thema. Doch wer weiß schon, daß Fatigue von Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen (z. B. COPD, Asthma, Lungenfibrose, Sarkoidose, AATM, LAM) als zweithäufigste Beschwerde genannt wird? Mitunter schildern Patienten und Angehörige sogar, daß Fatigue größere Auswirkungen auf ihre Lebensqualität habe als die gefürchtete Atemnot. Betroffene können inzwischen mit mehr Aufmerksamkeit rechnen, da das Phänomen „Fatigue“ durch die Corona-Pandemie mehr ins allgemeine Bewußtsein gerückt wurde.

Welche Ursachen führen zu Fatigue?

Die vielfältigen Krankheitszeichen, unter denen Fatigue-Betroffene leiden, sind im Blog-Beitrag „Genesen, aber nicht gesund: Leben lernen mit Corona (Teil 2)“ dargestellt. Sie deuten darauf hin, daß sich Fatigue nicht auf eine Ursache reduzieren läßt. Viele Faktoren und Ursachen tragen zu diesem Phänomen bei. Deshalb kann Fatigue auch ein Symptom bei vielen unterschiedlichen Erkrankungen sein. Die gemeinsame Entstehungsgeschichte liegt nach dem derzeitigen Wissensstand möglicherweise in autoimmunen und chronisch-entzündlichen Prozessen.

Kann man ein so komplexes Phänomen wie Fatigue durch Meßinstrumente erfassen?

Erstaunlicherweise ja. Es gibt inzwischen zuverlässige und anerkannte Testinstrumente:

  • allgemeine Fatigue-Fragebögen (z. B. Fatigue Severity Scale, Fatigue Impact Scale)
  • krankheitsspezifische Fatigue-Skalen (z. B. FACIT-F Scale, Manchester COPD Fatigue Scale)

Diese Meßinstrumente können die Schwere der Symptome oder den Einfluß der Fatigue auf die Lebensqualität erfassen.

Wie erfahren Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen die Symptome und Auswirkungen von Fatigue?

Hilfreich für die Beantwortung dieser Frage (und für die Entwicklung von Behandlungsansätzen!) ist ein Blick auf das 4plus2-Konzept. Das 4plus2-Konzept ist ein Grundkonzept, um Mechanismen darzustellen, wie (körperliche und psychische) Probleme entstehen, aufrechterhalten und verstärkt werden und wie sie beeinflußbar sind. Das Grundkonzept ist ein stark vereinfachtes Modell. Durch die Vereinfachung ist es möglich, komplexe menschliche Phänomene (z. B. Angst, Traurigkeit, Fatigue) in Einzelfaktoren zu zerlegen, die jeder für sich genommen beobachtet und verändert werden können. Graphisch läßt sich das 4plus2-Konzept so darstellen:

4plus2 konzept

Die Faktoren Körper, Gefühle, Gedanken, Verhalten stehen miteinander in Wechselwirkung und sind eingebettet in unser System von Beziehungen und Lebensorientierung. Unsere Erfahrungen betreffen diese Bereiche in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Wechselwirkungen.

Auch die Erfahrung „Fatigue“ äußert sich in diesen Bereichen, und zwar vor allem als:

  • körperliche Fatigue (Muskelschwäche, „Muskelkater“ nach leichter Anstrengung, Schlafstörungen)
  • emotionale Fatigue (Stimmungsschwankungen, Traurigkeit)
  • mental-kognitive Fatigue (Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen)
  • behaviorale Fatigue (sozialer Rückzug)

Welche Behandlungswünsche äußern Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen und Fatigue?

Patienten wünschen sich von ihren Behandlern mehr Aufmerksamkeit für das leider allzu oft übersehene Phänomen „Fatigue“. Sie suchen Verständnis für ihre individuellen Erfahrungen und ein pro-aktives Vorgehen der Therapeuten im Hinblick auf die Problematik (z. B. Hinweise auf verläßliche und verständliche Informationsquellen, Kontaktanbahnung zu Selbsthilfe-Gruppen, Vermittlung von ambulanten oder stationären Rehabilitationsangeboten).

Einzelheiten zu einem gestuften Vorgehen von der Grundversorgung bis zu multimodalen Behandlung findest Du im Blog-Beitrag „Genesen, aber nicht gesund: Leben lernen mit Corona (Teil 2)“.

leben lernen mit corona teil 2

06.12.2022

Genesen, aber nicht gesund: Leben lernen mit Corona (Teil 2)

Vieles ist noch ungeklärt im Hinblick auf das Post-COVID-Syndrom. Dennoch lohnt es, die bisherigen Erkenntnisse aufmerksam zu sichten. Denn gerade Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen können von dem aktuellen Fokus auf die psychischen Auswirkungen von COVID und besonders auf das Phänomen „Fatigue“ profitieren. Weiterlesen

Welche Selbsthilfe-Methoden können Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen bei Fatigue einsetzen?

Eigenständiges Fatigue-Management kann das 4plus2-Konzept nutzen. Es ist sinnvoll, individuelle Strategien für die einzelnen Faktoren (v. a. für Körper, Gefühle, Gedanken, Verhalten) zu entwickeln und einzusetzen.

Voraussetzung dazu ist allerdings eine bestimmte Grundhaltung. Diese Grundhaltung umfaßt folgende Eigenschaften:

offenheit bereitschaft engagement

Mit diesen Eigenschaften als Basis lassen sich sowohl Notfall-Maßnahmen (nach einem „Crash“) als auch Maßnahmen für den langfristigen Umgang mit Fatigue-Symptomen sinnvoll einsetzen.

Notfall-Maßnahmen nach einem „Crash“

Körper
• Selbstberuhigung durch Berührung (z. B. „Die Fürsorgliche Hand“)

Gefühle
• Blitz-Entspannung (z. B. „Anderer Ort, andere Zeit“)

Gedanken
• Achtsame Distanzierung (z. B. „Blätter im Fluß“)

Verhalten
• Menschliche Zuwendung (z. B. Telefonkontakt, Verbindung in Gedanken)

Nachhaltiges Pacing für den langfristigen Umgang mit Fatigue

Der englische Begriff „Pacing“ bedeutet: Das Tempo anpassen. Dieses Vorgehen ist bei Fatigue wichtig, um die typische Verschlechterung der Beschwerden nach körperlicher oder geistiger Aktivität (Post-exertionelle Malaise = PEM) zu vermeiden.

Um dem gefürchteten „Crash“ durch Überschreiten der Belastungsgrenze vorzubeugen und gleichzeitig die Kondition nicht durch vollkommene Inaktivität zu schwächen, ist ein angemessenes Pacing unerläßlich.

Körper
• Gesundheits-Tagebuch führen (um Auf- und Ab-Muster zu erkennen)

Gefühle
• Streß abbauen (z. B. durch Entspannungs-Verfahren, um emotionale Überanstrengung zu reduzieren)

Gedanken
• Achtsame Selbstfürsorge praktizieren (um Selbstvorwürfen vorzubeugen, z. B. wegen ungewolltem „Crash“)

Verhalten
• Energie managen (z. B. Grenzen VOR Beginn der Aktivität festlegen) und angenehme Aktivitäten zu energievollen Zeiten fest einplanen (um möglichst viele „Freudenzeiten“ zu erleben)

Welche Tips für den Alltag gibt es zusätzlich für Fatigue bei chronischen Lungenerkrankungen?

Folgende Schritte helfen dabei, ein angemessenes Fatigue-Management zu entwickeln.

1. Finde Deine individuellen Ursachen und Barrieren für das Auf und Ab von körperlichem und psychischem Befinden.

  • Körperliche Überanstrengung (z. B. zu viel Aktivität bei zu wenig Pausen und Schlaf)
  • Emotionale Überanstrengung (z. B. erhöhter Streß durch Konflikte oder Ängste)
  • Geistige Überanstrengung (z. B. Reizüberflutung durch Serien-Binge Watching)
  • Verhaltensbezogene Überanstrengung (z. B. durch Fehlhaltung „Eine Aktivität geht noch!“)

2. Entwickle aus den Erkenntnissen einen individuellen Strategieplan.

  • Reaktionsmuster des Körpers erkennen lernen
  • Emotionale Gesundheit erhalten und stärken
  • Energie einteilen, Wechsel von Aktivitäten und Pausen gemäß dem eigenen Biorhythmus fest planen
  • Eine Unterstützungsgemeinschaft aufbauen (nicht nur für Notfälle!)

3. Verfolge Deinen Fortschritt

  • Aktivitäts- und Symptom-Tagebuch erstellen und mit Unterstützern auswerten

Nach all diesen Empfehlungen solltest Du eines nicht versäumen: Freue Dich an den Erfolgen, wenn der angemessene Umgang mit Fatigue Deine Lebensqualität erhöht.

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Quellen:
– Tempel, M. (2017). Mehr als nur müde – Fatigue bei COPD. Patientenbibliothek „COPD in Deutschland“, 2-2017, 25-28
– Kouijzer, M., Brusse-Keizer, M., & Bode, C. (2018). COPD-related fatigue: Impact on daily life and treatment opportunities from the patient’s perspective. Respiratory medicine, 141, 47-51.
– PEM-Avoidance Toolkit Deutsch, Open Medicine Foundation, 2017
– Foto: fizkes / Shutterstock.com

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